Kennen Sie das, wenn ihr Bauch Ihnen schon lange etwas mitteilen will, der Kopf es aber versucht zu ignorieren, weil so etwas, was der Bauch behauptet, nur anderen passiert? Aber wenn dann ein Anderer oder gar nur ein Stück Papier das Bauchgefühl bestätigt, die Welt über einem zusammenbricht?
Der Augenblick, wenn man nicht weiß, ob man sich freuen soll, weil man doch nicht verrückt ist und Dinge sieht, die es nicht gibt, aber man gleichzeitig am Verzweifeln ist, weil der Traum von einem geplanten Leben sich so nicht erfüllen wird?
Wenn Sie diese Gefühle kennen, dann können Sie sich vielleicht hineinfühlen, wie es mir 2021 ging, als mir eine Humangenetikerin sagte, dass mein damals 10 Monate alter Sohn Oskar das Mowat-Wilson-Syndrom hat und laut Statistik nie sitzen, krabbeln, laufen, alleine essen, sprechen oder ähnliches können wird. Gleichzeitig wird er sein Leben lang voraussichtlich mit Epilepsie und vielleicht sogar Organschäden kämpfen müssen.
Ok, wir wussten bereits in der Schwangerschaft, dass ihm ein Teil des Gehirns fehlt (Balkenagnesie), aber keiner konnte uns sagen, wie sich das auf seine Entwicklung auswirken wird. Aber was hätten wir getan, wenn wir von seinem Gendefekt erfahren hätten. Hätten wir uns dann wirklich für ein viertes Kind inklusive Behinderung entschieden, was solche Aussichten auf ein für uns unvorstellbares Leben haben würde? Diese Frage stelle ich mir auch heute noch immer wieder, aber eine Antwort hab ich nicht.
Was ich aber weiß, ist, dass ich mich mit einem behinderten Kind sehr oft im Stich gelassen fühle. Ich fühle mich alleingelassen mit meiner Wut und Trauer darüber, was Oskar nicht kann oder sich schwer erkämpfen muss. Ich verzweifle, weil jede Teilhabe am alltäglichen Leben mit neuen Herausforderungen verbunden ist. Oder kennen Sie einen Standard-Kindergartenrucksack, in dem ein Kommunikationsmittel in Größe eines Leitzordners passt, oder Gummistiefel, die man über Orthesen ziehen kann? Oder was denken Sie, wie begeistert Kinderbetreuungseinrichtungen sind, wenn man sein Kind mit Individualbegleitung außerhalb einer i-Gruppe betreut sehen will, damit er und die Kinder aus der Nachbarschaft die Möglichkeit haben, gemeinsam in das Thema Inklusion zu wachsen.
Wobei, was ist Inklusion schon? Ein tolles Wort, das auf jeden Fall, aber was machen wir mit diesem Wort?
Ist es Inklusion, wenn ich beeinträchtigte Kinder in eine extra Gruppe an einem Ende des Kindergartens stecke, damit sie dort „Ruhe“ vor den anderen Kindern habe, anstatt allen Kindern die Möglichkeit zu geben, zusammen aufzuwachsen und zu akzeptieren, dass jeder seine Stärken und Schwächen hat?
Oder wie sieht es aus mit dem Geben von ungefragten Erziehungsratschlägen oder einem Kopfschütteln, weil ein „unartiges“ Kind von den Eltern in der Öffentlichkeit nicht „unter Kontrolle“ gebracht wird, obwohl es vielleicht auf Grund seines Handicaps nicht in der Lage ist, sich zu regulieren?
Vielleicht ist Inklusion aber auch, dass Personen mit Defiziten an Orte (egal ob KiTa, Schule oder Arbeitsstätte) kommen, wo geschultes Personal die Defizite in einer Ganztagesbetreuung versuchen zu minimieren, am Besten auch noch am Wochenende.
Wissen Sie, dass alles ist in meinen Augen keine Inklusion. Für mich ist Inklusion das Öffnen der Herzen und Gedanken um jeden Menschen seine Würde zuzugestehen. Inklusion sollte es jedem Menschen ermöglichen, sein Leben so gut es geht nach seinen eigenen Wünschen zu leben und nicht nach den Vorstellungen von anderen. Inklusion betrifft nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern jeden von uns, denn wer erfüllt schon alle Anforderungen, die sein Umfeld an ihn stellt?
Und so stellen mein Mann, meine Kinder und ich uns jeden Tag der Herausforderungen, wie wir ein inklusives Familienleben in einer Umgebung praktizieren können, die so gar kein Interesse daran zu haben scheint, dass unser Oskar ein Teil der Gesellschaft wird.
Wir haben jede Woche mehrere Termine bei der Heilpädagogik, Ergo-, Physio- und Logopädie. Alles außerhalb der Kinderbetreuung, da ich meinen Sohn gern zu den Therapeuten schicke, mit denen er sich gut versteht und nicht zu denen, die einen Vertrag mit der Betreuungseinrichtung haben. Auch sind mir Tür- und Angelgespräche wichtig, damit ich die Übungen daheim wiederholen kann.
Wenn Sie denken, dass hört sich sinnvoll an, sind Sie einer der wenigen, die so denken. Von vielen bekomme ich die Rückmeldung, dass das doch unpraktisch ist, neben einem Vollzeitjob auch noch meine Freizeit für so etwas zu verschwenden. Auch haben viele Sorge, dass meine älteren drei Kinder mit 10, 9 und 6 Jahren dadurch zu kurz kommen.
Mir wird vorgeworfen, dass ich zu viel Energie in meinen Sohn stecke, der doch für sein Leben ausgesorgt hat. Dank seiner Behinderung wird er in Ganztageseinrichtungen untergebracht und hat danach einen sicheren Arbeitsplatz in einer Behindertenwerkstatt inklusive Dach über dem Kopf in einer Wohngruppe. Und der Staat zahle das doch alles.
Wenn ich dann frage, ob diese Personen bereit wären, in meinen Keller zu ziehen und dort ihr restliches Leben Kugelschreiber zusammen zu bauen, bei freier Kost und Logie natürlich, habe ich seltsamer weise noch nie ein „Klar gerne“ als Antwort bekommen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich glaube durchaus, dass die Werkstätten und auch Wohngruppen für manche Menschen richtig ist, aber eben nicht für alle.
Aber was haben denn die Kinder für Möglichkeiten, außer in die Werkstatt zu gehen? So genau weiß ich das noch nicht, da es sehr vom Grad der Beeinträchtigung abhängt.
Ich durfte bereits mehrere Erwachsene kennenlernen, die trotz Defiziten eine Ausbildung mit verlängerter Ausbildungszeit abgeschlossen haben. Dafür mussten sie jedoch als junge Erwachsene teilweise für 4-5 Jahre in ein Internat mehrere Autostunden von zuhause ziehen, von wo sie nur jedes zweite Wochenende nach Hause fahren durften. Die Arbeitsagentur hat dabei mitentschieden, für welche Ausbildung sie geeignet sind und wo sie dafür hinmüssen. So darf man auch mal von Norddeutschland in ein Internat nach Bayern, wenn die Arbeitsagentur das so entscheidet.
Ich bin mir sehr unsicher, ob ich das für Oskar möchte. Wenn ich sehe, bei wie vielen Bekannten von mir die Kinder mit 20 Jahren und älter noch leben und von dort ihre Ausbildungen und die ersten Jahre im Berufsleben meistern, blutet mir das Herz, dass mein jüngster vielleicht für 4 Jahre mit der Volljährigkeit wegziehen muss, damit er eine Chance auf ein wenigstens teilweise selbstbestimmtes Leben hat. Was wird das aus unserer Beziehung und aus dem Verhältnis von ihm zu seinen Geschwistern und Freunden machen?
Und wer stellt ihn dann ein, wenn er eine Ausbildung schaffen würde, egal ob vollwertig oder als Assistenzkraft? Welcher Arbeitgeber traut sich das denn? Wie viele große Firmen zahlen lieber Strafen, statt beeinträchtigten Personen eine Chance zu geben? Und wie viele kleine Firmen trauen sich, etwas Neues auszuprobieren, was die gesamte Belegschaft beeinflussen könnte? Können Sie verstehen, dass ich bei solchen Gedanken schon kurz vor einer Panikattacke bin, weil schon wieder eine „Alltagssituation“ für Oskar eine Herausforderung werden wird.
So geht das Kopfkino tagaus tagein. Die Zweifel sind da, die mitleidigen Worte von anderen gehen mir auf den Keks und meine Vorwürfe an mich selber, dass ich vielleicht meine anderen Kinder unbeabsichtigt doch vernachlässige, belasten mich schwer. Manchmal, wenn ich auf dem Sofa sitzen mag das für andere so aussehen, als ob ich mich erhole, aber innerlich schreie ich und schimpfe mit mir, warum ich so faul bin und nicht mit Oskar seine Übungen mache.
Und wie mir so geht es so vielen Erwachsenen, die Kinder mit Beeinträchtigungen haben. Wie ich, suchen Sie ständig nach Möglichkeiten, ihr Leben mit den Bedürfnissen der Kinder in Einklang zu bringen. Sie bilden sich weiter über Fördermöglichkeiten und werden zu Fachleuten für das Handicap ihres Kindes. Sie fühlen sich allein, weil sie kaum andere betroffene Familien kennen, die das gleiche durchmachen.
Darum möchte ich Sie zum Abschluss meines langen Berichtes um zwei Dinge bitten:
Ersten, bitte überlegen Sie sich, ob Sie das Herz und den Kopf dafür haben, um Inklusion leben und umsetzen zu können und engagieren Sie sich ehrenamtlich.
Zweitens, teilen Sie bitte mit Freunden und Bekannten die Informationen, dass in Meitingen eine Selbsthilfegruppe für alle Familien mit beeinträchtigten Kindern gestartet hat, die allen Familienmitgliedern einmal im Monat eine Auszeit vom Alltag ermöglichen möchte: Die FamilienAuszeit Meitingen (FAM)
Danke,
Ihre Heike Rabas
PS: Oskar hat nach aktuellem Stand entgegen der Prognosen keine schweren Organschäden und er kann alleine essen, trinken, sitzen, sich an Gegenständen hochziehen, mit anderen interagieren und seit ein paar Tagen auch ein paar Schritte allein laufen. Das hat aus meiner Sicht nur deswegen entwickelt, weil jeder in der Familie ihn als vollwertiges Mitglied sieht und seine Geschwister in selbständig und ohne Zwang in ihre Aktivitäten mit einbinden. Mein Herz platzt vor stolz über meine vier besonderen Kids.
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